Mittwoch, 08.01.2025 - Zehn Jahre nach «Je suis Charlie»
Neue Züricher Zeitung - Der andere Blick am Morgen:
Zehn Jahre nach «Je suis Charlie»: Die Islamisten gewinnen, der Westen hat Todesangst
Von Marc Felix Serrao, Chefredaktor NZZ Deutschland, Dienstag, 07.01.2025
«Je suis Charlie», erklärten sehr viele Menschen, nachdem die Brüder Chérif und Said Kouachi am 7. Januar 2015 in der Redaktion der französischen Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» ein Blutbad angerichtet hatten. Auch das deutschsprachige Netz war voll von diesem Logo. Ich bin Charlie: Die Identifikation mit den ermordeten Karikaturisten sollte trotzig wirken. In Wahrheit war sie schon damals ein Ausdruck von Hilflosigkeit.
Zehn Jahre später gilt: Personne n’est Charlie. Niemand ist mehr Charlie. Gewiss, den Papst, das Judentum oder den Buddhismus kann man im Westen auch heute noch problemlos verspotten, ohne dass man dafür – zumindest irdische – Folgen fürchten müsste. Aber wehe, man belächelt oder kritisiert den Islam. Dann lebt man fortan gefährlich. Die Kouachi-Brüder und viele ihrer fundamentalistischen Glaubensgenossen haben auf eine sehr nachhaltige Weise Angst und Schrecken verbreitet.
Wer sich ein Bild von der heutigen Stimmung unter deutschsprachigen Karikaturisten machen möchte, kann das nun in mehreren deutschen Städten tun. Das Museum Wilhelm Busch im niedersächsischen Hannover und vier weitere Museen erinnern mit einer «künstlerischen Intervention» an den Terroranschlag auf «Charlie Hebdo». Zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler haben dafür Werke eingereicht. Statt «Ich bin Charlie» wäre «Ich habe Angst» das ehrliche Motto.
Da ist zum Beispiel eine Karikatur des Wieners Daniel Jokesch, die zwei Männer im Gespräch zeigt. Ein erstes Bild zeigt die Vergangenheit: «Ich bin Karikaturist», sagt ein Mann, hinter dessen Ohr ein tropfender Füller klemmt. «Kann man davon leben?», erwidert der andere. Das zweite Bild zeigt die Gegenwart. «Ich bin Karikaturist», sagt der erste Mann wieder. «Kann man davon sterben?», erwidert der zweite. Die Antwort ist bekannt.
Katzenbilder sind erlaubt
Andere Zeichnungen gehen in die gleiche Richtung. Ein «Karikaturmeter» der Kölner Cartoonistin Ruth Hebler zeigt im roten Bereich die durchgestrichene Zeichnung eines nur sehr vage erkennbaren bärtigen Mannes. Am anderen Ende der Skala sitzt ein Kätzchen und macht «Miau».
«Verteidigung der Meinungsfreiheit» steht über einem anderen Bild, es stammt von der Hamburgerin Dorthe Landschulz. Hier sitzt ein Zeichner an einem Tisch, darum herum schwerbewaffnete Polizisten. «Ich fühle mich trotzdem irgendwie eingeengt. . . », steht in einer Gedankenblase über dem Kopf des Mannes.
Irgendwie eingeengt: So fühlen sich heute nicht nur Karikaturisten, sondern auch Menschen, die die Massenmigration aus muslimischen Ländern und ihre Folgen mit Sorge sehen. Wer seiner Sorge allzu deutlich Ausdruck verleiht, dem drohen einerseits Konsequenzen von radikalen Muslimen und andererseits Vorwürfe, «antimuslimischen Rassismus» zu verbreiten, etwa durch staatlich finanzierte Meldestellen.
Die Folge ist ein doppelter «chilling effect». Man fürchtet die Islamisten, aber auch den Stempel «islamophob», also hält man die Klappe. Oder malt miauende Kätzchen.
NZZ
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